Zum Anatomischen Institut der Universität des Saarlandes
Körperspende
Verfahren
Vereinbarung

Ausweis

Fragen

Info für Angehörige

Daten

Trauerfeiern

Mitarbeiter

Kontakt

 

Sammlung

Literatur

Links

Statement Körperwelten

Downloads
 
Fortbildung
Studierende
Kunst in der Mensa

Impressum

 

Literatur


    Zur Geschichte der anatomischen Sektion

    Kurt W. Becker (2002)

     

    "Anatomie im weitesten Sinne des Wortes ist die Wissenschaft der Organisation. Sie zerlegt die Organismen in ihre bildenden Bestandtheile, eruiert das Verhältnis derselben zueinander, untersucht ihre äusseren, sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften und ihre innere Struktur, und lernt aus dem Todten, was das Lebendige war. Sie zerstört mit den Händen einen vollendeten Bau, um ihn im Geiste wieder aufzuführen und den Menschen gleichsam nachzuschaffen. Eine herrlichere Aufgabe kann sich der menschliche Geist nicht vorstellen."

    Joseph Hyrtl (Wiener Anatom, 1811-1894)

    "Ärzte ohne Anatomie sind wie Maulwürfe, sie tappen im Dunkeln und ihrer Hände Arbeit sind Erdhügel."

    Friedrich Tiedemann (Heidelberger Anatom, 1781-1861)

     

    Sektion, Obduktion, Autopsie oder "Anatomie" sind Begriffe, die für viele Menschen mit uralten Gefühlen von Unbehagen, Unsicherheit, Widerwillen oder gar Angstgefühlen gegenüber Leichen besetzt sind, aber auch Neugier und Faszination hervorrufen - dies häufig mit der Einsicht verbunden, dass man "Anatomie" beherrschen muss, will man ärztlich tätig sein. Der Übersetzung nach drückt "Anatomie" (griechisch: anatemnein - zerschneiden, zergliedern) nur eines der Mittel aus, denen sich diese Wissenschaft zur Lösung ihrer Aufgaben bedient, nämlich dem Mittel der Zergliederung. "Zergliederungskunde" ist somit nur ein eingeschränkterer Begriff als der der Anatomie, obwohl häufig beide im selben Sinne gebraucht werden.

    Die Wissenschaft Anatomie ist verhältnismäßig jung, kaum einige Jahrhunderte alt. Das klassische Altertum kannte die Anatomie, wie sie heute verstanden wird, fast gar nicht. So kennzeichnen zwei "Perioden" die Geschichte der Anatomie: die erste erstreckte sich von der Vorzeit bis etwa in die Mitte des 16. Jahrhunderts, die zweite begann mit der Renaissance. Auch wenn die Menschen frühester Zeiten bereits elementare Kenntnisse von menschlichen Anatomie hatten, so waren sie doch nicht oder nur unzureichend fähig, diese zu formulieren und festzuhalten. Wann, warum und wie Menschen sich zuerst für ihren Körper interessierten, ist aus historischen Zeugnissen nicht zu ersehen. Allerdings belegen die überlieferten vor- und frühgeschichtlichen bildlichen Darstellungen von magischen Szenen und Riten, dass schon damals Kenntnisse vom Körper vorhanden gewesen sein mussten, auch wenn von einem tatsächlichen anatomischen Wissen nicht gesprochen werden kann. An bestimmten Stellen des Körpers kann Schmerz empfunden werden, bestimmte Verwundungen führen zum Tode oder zur Invalidität. Es liegt also nahe, dass man die Anatomie immer mit der empirischen Praxis der Heilkunst verbunden hat. Dagegen ist es unwahrscheinlich, dass schon in der frühen Menschheitsgeschichte die Symptome einer organischen Krankheit mit der Verletzung eines inneren, also nicht sichtbaren Organs in Zusammenhang gebracht werden konnten. Krankheit war etwas Geheimnisvolles und Übernatürliches, das von bösen Geistern hervorgerufen wurde. Nur eingeweihte Leute, nämlich Hellseher, Priester oder Schamanen konnten vor Krankheit schützen. Auch in heutigen primitiven Gesellschaften wird diese Funktion noch von heilkundigen Schamanen bekleidet, deren Wissen sich allein auf empirischen Fertigkeiten gründet.

    Mesopotamische Keilschriften aus der Zeit um 3500 v. Chr. belegen, dass bei Sumerern und Babyloniern gewisse anatomische Grundkenntnisse vorhanden waren, die dann beim Hellsehen angewendet wurden. Von den Urahnen der heutigen Anatomen wurden aus dem Vergleich der Eingeweide von Opfertieren mit anderen Zeichen in der Zukunft liegende gute oder schlechte Ereignisse gedeutet und vorhergesagt. Vereinzelte Wahrnehmungen, die beim Schlachten der Tiere gemacht wurden, konnten noch nicht Anatomie genannt werden.

    Auch die Ägypter besaßen gewisse Kenntnisse über den menschlichen Körper. Die Personen, die mit erstaunlicher Kunstfertigkeit tote Körper einbalsamierten, die Paraschistes, waren in der Anatomie erstaunlich unerfahren. Aus Ehrfurcht vor dem Leichnam griff man - abgesehen von den Vorgängen beim Einbalsamieren - nicht weiter in den Körper ein. Anatomische Strukturen wurden in keiner Weise systematisch erfasst.

    In den antiken Hochkulturen galt die Leiche als etwas Unantastbares, der eine besondere Stellung und Schutz zugestanden wurde. Allerdings wurde bei Leichen von Personen, die mit dem Tode bestraft wurden, von dieser Unantastbarkeit häufig abgewichen, d. h. sie durften in Einzelfällen für anatomische Zwecke verwendet werden. Bei den Griechen und Römern galt das Unbeerdigtsein als eine der schlimmsten Strafen, Leichen mussten schnellstmöglich verbrannt und deren Asche begraben werden. Auch war es religiöse Pflicht, jeden zufällig gefundenen menschlichen Knochen mit Erde zu bestreuen und ihm damit zumindest symbolisch ein Begräbnis zuzugestehen. Das Bestreben, Leichen möglichst schnell zu "beseitigen" ist auch später erhalten geblieben, wobei dann aber nicht nur religiöse, sondern auch hygienische Gründe ausschlaggebend gewesen sind.

    Die Griechen hatten bereits einiges an Wissen über den menschlichen Körper. An Stelle von Verstorbenen, die nicht angetastet werden durften, wurden Tiere obduziert und Analogieschlüsse zum menschlichen Körper gezogen. Empedokles sezierte um 450 v. Chr. Totgeborene - was nicht verboten war, da diese noch nicht gelebt hatten - und beschrieb Muskeln und Bänder. Alkmaion von Kroton soll um 400 v. Chr. bereits Arterien von Venen unterschieden haben; er studierte auch Sinnesorgane und Gehirn. Letzteres hielt er für eine Ansammlung von Kanälen, die im Rückenmark münden - Phantasie und Wahrheit vermischten sich. Der Arzt und Chirurg Hippokrates (460 bis 377), ein Zeitgenosse Platons, berührte in seinen Schriften zuweilen auch Themen der Anatomie. Im Unterschied zu Hippokrates war für Aristoteles (384-322), einem Schüler von Platon und für kurze Zeit Lehrer Alexanders des Großen, die Beobachtung und nicht die theoretische Konzeption vorrangig. Ausgehend von seinen Studien am Objekt versuchte er sich ein Gesamtbild der allgemeinen Anatomie zu erarbeiten. Er sezierte, beobachtete und zeigte, dass das Herz Zentrum des Blutkreislaufes ist und die Niere der Ausscheidung dient, interessierte sich allerdings in keiner Weise dafür, wie die Anatomie in Medizin und Chirurgie zur Anwendung kommen könnte.

    Die "alte" Anatomie erreichte nicht in Athen, sondern im dritten Jahrhundert v. Chr. in Alexandria unter der Herrschaft von Ptolemäus I. Soter (367-283) und Ptolemäus II. Philadelphos (308-246) ihre Hochblüte. Die aus Griechenland stammenden Könige waren im Geiste von Aristoteles erzogen worden: alles von der Natur Vorgegebene ist zu erforschen. Ptolemäus I. Soter gründete die ersten beiden großen wissenschaftlichen Institutionen der Welt: das Museum und die Bibliothek von Alexandria. Das Museum, das seinen Namen zu Ehren der Musen erhalten hatte, war ein echtes Forschungszentrum, wo Gelehrte der Human- und Naturwissenschaften lebten und zusammen arbeiteten und über eine Bibliothek von über siebenhunderttausend Bände verfügt haben sollen. Für die Ptolemäer war Wissen wichtiger als traditioneller Totenkult, so dass öffentliche Sektionen nicht nur erlaubt, sondern sogar gefördert wurden. Ihnen ist es zu verdanken, dass Proxagoras von Kos (um 370 v. Chr.), Herophilos (315-250) und Erasistratos (310-250) als erste eigentliche anatomische Forscher arbeiten konnten. Deren Werke, die mit dem Brand der Bibliothek (47 v. Chr.) verloren gingen, müssen einen beträchtlichen Umfang gehabt haben. Teile diese Arbeiten sind bekannt geblieben, da sie später sehr oft zitiert wurden. Proxagoras bezeichnete die wie das Herz schlagenden Gefäße bereits als Arterien. Die Schüler von Proxagoras, Herophilos als Anatom und Erasistratos als Anatom und Physiologe, stehen an vorderster Stelle in der Geschichte der Anatomie, denn ihnen kommt das Verdienst zu, die Anatomie im eigentlichen Sinne des Wortes begründet zu haben. Herophilos hat verschiedene Teile des Gehirns beschrieben: Hirnhaut, Hirnkammern, die großen Blutleiter im Schädel, Hirn- und Rückenmarksnerven. Er war der erste, der Arterien und Venen klar unterschied, die Lungengefäße nannte er arterische Venen, er machte bereits Angaben zum Auge, dem Zwölffingerdarm, der Haut und den Eileitern. Erasistratos, der 600 Sektionen durchgeführt haben soll, untersuchte menschliche und tierische Körper, differenzierte bereits zwischen Bewegungs- und Empfindungsnerven und beschrieb die Herzklappen. (Später wurde ihm vorgeworfen, zum Tode Verurteilte viviseziert zu haben - eine durch nichts zu belegende Fama, die neidvolle Zeitgenossen verbreitet hatten und das gerne von der Nachwelt übernommen wurde.)

    Nach dem Tod von Herophilos und Erasistratos stagnierte die Entwicklung der Anatomie fast völlig. Die Medizin wurde von Empirikern dominiert, die weder für Theorie noch für angewandte Wissenschaft etwas übrig hatten. Anatomische und physiologische Erkenntnisse, die das Handeln der Alexandrinischen Schule bestimmt hatten, waren den Empirikern höchst verdächtig. Die Anhänger dieser Schule bezweifelten, dass man über die Anatomie und Physiologie Rückschlüsse auf den lebenden Organismus ziehen könne.

    Nach dem Brand der Bibliothek (47 v. Chr.) und der Eroberung Ägyptens durch Cäsar wurde Alexandria als Zentrum der Wissenschaften bedeutungslos gegenüber Rom, der Hauptstadt des Imperiums. Und doch waren es vor allem griechische Ärzte, die die Medizin voran brachten. Im ersten Jahrhundert empfahl Aulus Cornelius Celsus (um 25), selbst kein Arzt, menschliche Leichen zu sezieren. Celsus lieferte bereits eine genaue Beschreibung von Schädelnähten und Wirbelsäule. Obgleich er keine Sektionen vorgenommen hatte, zeigt dies doch, welch große Bedeutung er der anatomischen Forschung zumaß.

    Die römischen Anatomen haben vor allem kopiert; ihre Werke erscheinen ziemlich unbedeutend im Vergleich zum Werk eines Galen (129-201). Der Grieche Galenos von Pergamon war eine Persönlichkeit, die noch vielen späteren Jahrhunderten ihren Stempel aufdrücken sollte. Galen, ein später Schüler der Alexandrinischen Schule, war in Rom als Kaiserlicher Leibarzt tätig. Sein medizinisches Handeln gründete sich auf eine umfassende und rational aufgebaute Krankheitslehre, die eng mit Form und Funktion des Körpers, also einer Anatomie, verbunden war. Als starke, schöpferische Persönlichkeit hinterließ er ein beträchtliches Werk mit mehr als zweihundert Veröffentlichungen. Über Anatomie handeln "De usu partium corporis humani" und die fünfzehn Bücher "De anatomicis administrationibus". Die meisten seiner anatomischen Beschreibungen basieren in erster Linie auf der Sektion von Tieren, insbesondere von Affen, Hunden und Schweinen, wobei nicht eindeutig feststeht, ob auch menschliche Leichname von ihm seziert worden sind. In Rom hatte er indes als Gladiatorenarzt durchaus Gelegenheit zu anatomischen Beobachtungen. In seinen Beiträgen zur Osteologie (Knochenlehre) und Myologie (Muskellehre) beschreibt er den Aufbau des Skelettes und Funktionen von Muskeln, er macht Angaben zu den inneren Organen des Brustkorbs. Kleinhirn, Hirnstamm und Rückenmark sowie Hirn- und Rückenmarknerven werden bemerkenswert korrekt dargestellt. Seine Werke enthalten aber auch viele "Irrtümer": die fünflappige Leber, den zweikammerigen Uterus, den Uterus-Brustgang, die vermeintlichen Poren in der Herzscheidewand oder das siebenteilige Brustbein.

    Seine Werke prägten über weit mehr 1000 Jahre die ganze europäische Medizin. Die Gelehrten begnügten sich damit, Galensche Lehrmeinungen ungeprüft und unkommentiert zu übernehmen. Niemand dachte daran, diese in Zweifel zu ziehen oder gar mit Hilfe von Sektionen zu kontrollieren, da sie für endgültige Erkenntnisse gehalten wurden. Während dieser Zeit stagnierte jegliche anatomische Forschung, medizinische Kenntnisse wurden nur noch individuell weitergegeben oder von Hippokrates oder Galen abgeschrieben.

    Aber nicht nur der blinde Glaube an die Lehren Galens und das geringe Interesse an anatomischer Forschung verhinderten die Entwicklung der Anatomie: durch die Arbeit der Anatomen war die Unantastbarkeit der Leiche in der vorchristlichen und vor allem in der christlichen Zeit gefährdet. So bestand beim frühen Christentum eine ausgeprägte Scheu vor der Leichenöffnung, gegen die sich insbesondere die Kirchenväter Tertullian (155-222) und Augustinus (354-430) wandten. Die Gerüchte über Vivisektionen in Alexandria ließen Tertullian die Anatomen als "Metzger" verdammen. Am deutlichsten kommt die sektionsfeindliche Haltung der christlichen Frühzeit in einer Stellungnahme des Augustinus zum Ausdruck, der in seinem Werk "De Civitate dei" die Anatomen auf das Schärfste verdammt und ihnen die Fähigkeit abspricht, jemals die wahre "Harmonie des menschlichen Körpers" erfassen zu können. Allerdings gab es auch gegenteilige Meinungen: Gregor von Nyssa (ca. 330-394) empfiehlt, sich von den zu Gott hinführenden anatomischen Untersuchungen belehren zu lassen.

    Der Einfluss der Aussagen des Augustinus auf die Einschätzung der Sektion im Mittelalter war beträchtlich. So bezeichnete noch Anfang des 15. Jahrhunderts Johannes Gerson, der "Doctor christianissimus", die Sektion als frevlerische Entweihung und sinnlose Grausamkeit der Lebenden gegenüber den Toten. Ein direktes Verbot von Sektionen kann allerdings weder in Konzilsaufzeichnungen noch in päpstlichen Dekreten nachgewiesen werden.

    Mit der "Schule von Salerno" (ca. 1000-1200) blühte die europäische Medizin wieder auf. Das italienische Salerno, ein bereits seit der Antike berühmter Ort der Heilkunst, war Lazaretthafen der Kreuzfahrerschiffe geworden, zu dem viele Kranke gebracht wurden. Die dortigen Heilkundigen, die "civitas salernitanis", erinnerten sich an die alexandrinischen Forschungen und förderten anatomische Studien, die ihnen für ihre therapeutischen Bemühungen in höchstem Maße nützlich waren. Schweine wurden damals genauestens untersucht und seziert, weil man der durchaus richtigen Meinung war, dass es grundsätzliche Entsprechungen zwischen der "Anatomia porcis" und der "Anatomia hominis" gäbe. Solche "Demonstrationes anatomicae" mehrten das Wissen und dienten natürlich auch der Einübung ärztlicher Praktiken. Von den Landesherren Roger II. (1140) und dem Staufferkaiser Friedrich II. (1231) wurden sogar Prüfungs- und Studienordnungen erlassen, in denen damaliges anatomisches Schulwissen Voraussetzung für die Ausübung des ärztlichen Berufes war. Behörden konnten Leichenöffnung und Eingeweidebeschau anordnen, wenn bei hochstehenden Persönlichkeiten der Verdacht auf einen Vergiftungstod bestand.

    In der Anatomie hatte die Sektion zunächst fast ausschließlich der Illustration des vorgelesenen Textes gedient, sie war keine eigenständige Lehr- und Forschungsmethode. Der "Anatomische Akt" war ein mehr oder weniger rein optisches Spektakel, teilweise sogar ein Gaudium, an dem die Öffentlichkeit gegen Bezahlung teilnehmen konnte. Unter improvisierten Bedingungen wurde der Leichnam zuerst zu Schau gestellt, dann erfolgte die "Anathomia". Während der Sektion saß der Professor (Lektor) erhöht auf einem "Lehrstuhl" und hielt seine "Vorlesung", d. h. er rezitierte Texte von Galen. Unabhängig vom abgelesenen Text sezierte ein Handwerker, Bader oder "Chirurgus" als "Prosector", "Incisor" oder "Dissector" die Leiche. Ein Famulus des Lectors, der sogenannte "Demonstrator", "Indicator" oder "Ostensor" zeigte mit einem Stock auf die seiner Meinung nach gerade vorgelesenen Strukturen.

    Papst Bonifaz VIII. verbot 1299 das Zerstückeln und Auskochen menschlicher Leichen. Während der Kreuzzüge war es nämlich nicht unüblich, die Reste von verstorbenen Prominenten als "saubere Skelette" in die Heimat mitzunehmen. Obgleich sich die päpstliche Bulle nicht auf anatomische Lehrsektionen, sondern auf das barbarische Zerstückeln und Auskochen bezog, wurde diese später immer wieder dazu benutzt, der allgemeinen Abneigung gegen die Sektion eine scheinbare Berechtigung zu geben. Die allgemeine Unsicherheit sollte erst eine Bulle von Papst Sixtus IV. (1471-1484) beenden. In dieser wird das Studium der Anatomie an menschlichen Leichen und die Lehrsektion ausdrücklich erlaubt. Trotzdem musste sich Papst Benedikt XIV. um die Mitte des 18. Jahrhunderts veranlasst sehen, noch einmal die ursprüngliche Deutung der päpstlichen Erlasse klarzustellen. Auch heute besteht von Seiten der lateinischen Kirche weder gegen die anatomische Sektion noch gegen die pathologische Obduktion ein Einwand.

    Die ersten ausführlicher dargestellten Sektionen sind von Henri de Mondeville (Paris, 1315) und von Mondino di Luzzi (1316), genannt Mondinus, dokumentiert. Mondinus galt mit seiner 1326 geschriebenen "Anathomia" als der wichtigste Anatomielehrer seiner Zeit und als der erste der neueren Zeit überhaupt. Weitere Wegbereiter der Anatomie - und diese Aufzählung kann nur unvollständig sein - waren Niccolò da Reggio (Neapel) mit "De usu partium corporis humani" (1317), Guido da Vigevano (Paris) mit einer ersten Präparier- und Sektionsanleitung für Unterrichtszwecke (um 1345), Johannes de Ketham (Wien) mit "Fasciculus medicinae" (1491) oder Alessandro Benedetti (Padua) mit seiner "Anatomia sive historia corporis humani" (1493).

    Johann Winter von Andernach (Paris, 1505-1574) übersetzte erstmals Galens Sektionsanleitung "De anatomicis administrationibus" aus dem Griechischen ins Lateinische, wodurch ein neues Interesse an der Anatomie und ihrer Erforschung aufkam. Die jetzt erst für viele zugänglichen Schriften machten deutlich, welche Bedeutung der über Jahrhunderte zitierte Galen der Sektion zugewiesen hatte.

    Ein weiterer Impuls für die Anatomie ging von der bildenden Kunst aus. Die in Malerei und Bildhauerei angestrebten und immer realistischer werdenden Darstellungen des menschlichen Körpers weckten das Interesse an künstlerisch-anatomischen Studien. Kunstwerke, wie z. B. diejenigen von Andrea Mantegna (Sebastian, um 1455, Paris Louvre) oder von Sandro Botticelli (Geburt der Venus, um 1470, Florenz Uffizien), zeigen Figuren von bemerkenswerter anatomischer Realitätsnähe; von Antonio Pollajuolo (um 1470) liegen Muskel- und Gelenkzeichnungen vor, die in ähnlicher Weise von Leonardo und Michelangelo erst nach 1500 angefertigt wurden.

    Lehrsektionen am Tier, gerichtliche und seuchenhygienische Sektionen sowie die eigentlichen anatomischen Lehrsektionen, die teils der Überprüfung alter Texte, teils der Ausbildung des ärztlichen Nachwuchses sowie wissenschaftlichen Untersuchungen dienten, und nicht zuletzt Künstler bereiteten zum Anfang des 16. Jahrhunderts in mannigfaltiger Weise die "zweite Periode" der Anatomie vor. Der sogenannten Künstleranatomie verdankte auch Andreas Vesalius (1514-1564), der überwiegend in Padua wirkende Begründer der modernen wissenschaftlichen Anatomie, den Erfolg seines epochemachenden Werkes "De humani corporis fabrica libri septem" (Basel, 1543). Vesal hatte zur Anfertigung der Abbildungen seines siebenbändigen Werkes den Tizian-Schüler Johann Stephan von Kalkar (ca. 1500-1546) beauftragt. Während in der vorvesalischen Zeit Theorie und Praxis der Anatomie, d.h. das Vorlesen aus alten Schriften und das Sezieren und Demonstrieren an der Leiche, jeweils unterschiedlichen Personen oblagen, so vereinigte Vesal den praktischen und theoretischen Anatomieunterrichts in einer Hand. Innerhalb weniger Jahre wandelte er sich vom Lehrer der Anatomie Galens zu ihrem bedeutendsten Kritiker. Vesal stellte nämlich fest, dass Galens Beschreibungen offensichtlich auf der Sektion von Schweinen, Affen und Hunden beruhten und nicht mit dem übereinstimmten, was er selbst bei der Sektion menschlicher Leichen vorgefunden hatte. Sein Verdienst war es also, nicht nur mit der "Fabrica" ein erstes umfassendes Lehrbuch der menschlichen Anatomie geschrieben zu haben, sondern vor allem die über Jahrtausende unkorrigiert übernommenen "Irrtümer" Galens durch eigene Untersuchungen berichtigt und überwunden zu haben.

    In der Folgezeit konnte niemand, der in der Anatomie ernst genommen werden wollte, sein Werk ignorieren. Auch die zahlreichen Gegner der revolutionären Lehrmeinungen, wie z. B. sein eigener Lehrer Sylvius (1478-1555) oder sein Schüler Realdo Colombo (1516-1559) mussten sich mit den neuen Tatsachen auseinandersetzen und auf seine Methoden und Feststellungen einlassen. Anatomie konnte plausibel nur noch in der Art betrieben werden, wie es Vesal vorgemacht hatte.

    Zeitgenossen und Nachfolger wie z. B. Gabriele Fallopio (1523-1562), Girolamo Fabrizzi (Hieronymus Fabricius ab Aquapendente, 1537-1619) oder Bartolomeo Eustachio (1524-1574) ergänzten mit eigenständigen Arbeiten das anatomische makroskopische "Basiswissen", das in den darauffolgenden Jahrhunderten von unzähligen Anatomen vervollständigt wurde.

    Während die Makroskopische Anatomie nur noch wenig grundlegend Neues finden konnte, wurde für die morphologische Forschung nun die Mikroskopie - verbunden mit den Namen wie Marcello Malpighi (1628-1694, Bologna) und Anton van Leeuwenhoek (1632-1723, Delft) - zur dominierenden anatomischen Forschungsmethode.

    Anatomische Sektionen fanden nur noch selten im Freien und unter improvisierten Bedingungen statt, sondern in eigens dafür konstruierten amphitheaterähnlichen Hörsälen, den sogenannten "Anatomischen Theatern". In Anbetracht grausamer Hinrichtungspraktiken galten Sektionen, die überwiegend an Exekutierten vorgenommen wurden, über lange Zeit als eine Verschärfung der Todesstrafe und wurden von den Obrigkeiten auch zur Disziplinierung der Bevölkerung missbraucht. Sie brachten Schande, Unehre und Schmach über die Familie der Delinquenten. "Die Leichenzergliederung als eine solche doppelte Hinrichtung galt als eine der gefürchtetsten Strafen, die schlimmer als selbst die Hinrichtung empfunden wurde. Der Anatom übernahm jetzt die Aufgabe des Henkers und begann, den Delinquenten materiell vom Tod zu reinigen - so etwa durch das Präparieren, das Kochen und das Reinigen der Knochen" (Pauser, 1998). Es war aber nicht allein die Zerstückelung des Körpers, die die Menschen fürchteten. Noch mehr schreckte nämlich die Tatsache, dass die Leichen in Gegenwart der Öffentlichkeit seziert wurden. Jeder, der Eintrittsgeld zum "Anatomischen Theater" bezahlte, konnte bei Sektionen anwesend sein und zuschauen.

    Erst mit der Aufklärung wurde die Verwendung von Leichnamen nicht zum Tode Verurteilter legitimiert. Die Sektion verlor den Schrecken der Strafverschärfung und erhielt zunehmend das Ansehen eines ehrenhaften und für die Allgemeinheit nutzbringenden Vorgangs. So schreibt Friedrich Benjamin Osiander (1759-1822) in seinem 1796 erschienen "Lehrbuch der Hebammenkunst":

    "Das Hauptvorurteil beim gemeinen Manne [gegen die Sektion] ist seine Abscheu gegen alles Zerschneiden eines Leichnams. Weil man nämlich in vorigen Zeiten und auch jetzt an manchem Ort meist nur die Leichname von Missethätern und Selbstmördern zum Zergliedern auf den anatomischen Theatern bestimmte, so glaubt der gemeine Mann, nur solche unglückliche Menschen seyen dazu verdammt, zerschnitten zu werden, und jedes Zerschneiden eines Leichnams gereiche einem Verstorbenen und seiner Familie zur Unehre. Er bedenkt aber nicht, daß beynahe jeder Leichnam einer fürstlichen, gräflichen und anderen vornehmen Person vor dem Begräbniß aufgeschnitten, und bey dem einen das Hirn in diese Gruft, das Herz in eine andere, das Eingeweide in eine dritte, und der Leib in eine vierte beygesetzt wird; ferner, daß selbst dem Leichname eines Missethäters keine größere Ehre nach dem Tode widerfahren kann, als das Zergliedern von Ärzten. Statt daß Raben und Füchse seine Glieder zernagen und seine Gebeine unter freyem Himmel vermodern, werden manchmal seine Adern und Nerven, sein Gerippe, sein Hirn u. dgl. auf das mühsamste zubereitet, in kostbaren Glasschränken und Sälen aufbewahrt und von Kunstverständigen nach Jahrhunderten noch bewundert, während der ausgescharrte Knochen des ehrlichsten Mannes auf dem Gottesacker mit Füßen getreten, oder von einem elenden Menschen geraubt und zu schändlichem Aberglauben mißbraucht wird."

    Gegenwärtig stehen den Anatomischen Instituten in Deutschland Körperspenderinnen und Körperspender in mehr als ausreichender Zahl zur Verfügung. An fast allen Instituten ist sogar eine ansteigende Nachfrage für die Körperspende zu erkennen, was die gegenwärtige Bereitschaft der Bevölkerung zur anatomischen Körperspende eindrucksvoll demonstriert. Ca. 80.000 bis 100.000 Körperspendevereinbarungen noch lebender Personen sind in den Unterlagen und Körperspenderarchiven der Anatomischen Prosekturen der Bundesrepublik registriert. Bei den heutigen "Anatomie-Leichen" handelt es sich ausschließlich um Leichen von Personen unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen, die bereits zu Lebzeiten letztwillig und in eigener freier Entscheidung bestimmt haben, ihren Körper unentgeltlich für Forschung und ärztliche Aus- und Weiterbildung zur Verfügung zu stellen.

    Die traditionellen wie auch die modernsten Methoden zur Diagnose und Therapie von Krankheiten erfordern mehr denn je einen umfassenden anatomischen Kenntnisstand. Das Wissen vom Aufbau und den Funktionen des menschlichen Körpers bleibt die Basis für jedes ärztliche Handeln und Denken und muss in Vorlesungen, Seminaren und Sektionsübungen immer wieder neu erarbeitet und vermittelt werden. Eine verantwortungsbewusste anatomische Ausbildung des ärztlichen Nachwuchses ist aber ohne die Möglichkeiten eigener Anschauung nur schwer möglich, wenn nicht sogar unmöglich. Die für alle Bereiche der Medizin unabdingbaren anatomischen Kenntnisse können immer nur am menschlichen Körper, am lebenden und am toten Körper, erworben werden. Der Erhalt, die Weitergabe und die Weiterentwicklung des vorhandenen anatomischen Wissens ist deshalb unabdingbar für eine verantwortungsbewusste Ausbildung in der modernen Medizin.

    "Die Tatsache, dass das anatomische Präparat tot ist, tut seinem großen Wert keinen Abbruch, erweist sich als didaktisch günstig .... Die Kritik, aus Totem sei kaum etwas über das Lebendige erlernbar, ist klassisch, wurde bereits den antiken Anatomen entgegengehalten, ist jedoch unsinnig, ein bloß rhetorisches Argument. Die morphologischen Sachverhalte bleiben auch gültig, insbesondere wenn sie im Kontext der dynamischen, lebendigen Vorgänge gesehen werden. Die Befassung mit Totem führt von selbst zur Beschäftigung mit dem Lebendigen, fordert sie geradezu heraus. Das Bedürfnis, eine Struktur in ihrem Funktionieren zu begreifen, das Funktionieren aus der Besonderheit der Struktur, war immer das eigentliche Anliegen. Die Befassung mit zergliederbarer postmortaler Struktur führt notwendigerweise zum Versuch, diese Struktur im lebendigen Zusammenhang zu beobachten. ..... Auf den ersten Blick paradox, entpuppt sich das Studium des toten Körpers als eine Grundvoraussetzung des Arztwerdens in zweifacher Hinsicht: zum einen, um die menschliche Anatomie zu "begreifen", zum anderen, um der selbstverständlichen Verquickung von Struktur und Funktion im Leben gewahr zu werden."[Neuhuber, 1998].

    >>> Zurück zum Textanfang

     

    Literatur

    Augustinus: De Civitate Dei, Liber vigesimus secundus, Editio I.-P. Wigne 1845, S. 791. (Zit. nach Wolf-Heidegger, G.: Zur Geschichte der anatomischen Zergliederung des menschlichen Körpers. In: Wolf-Heidegger, G., Cetto, A. M.: Die anatomische Sektion in bildlicher Darstellung. Karger Basel 1967, S. 35-36)

    Becker K. W., Papathanassiou V.: Zum Stand des anatomischen Prosekturwesens. Saarl. Ärztebl. 10/1997, S. 15-27

    Becker K. W.: Anmerkungen zur Geschichte der anatomischen Sektion. In: KunstOrt Anatomie, Staden-Verlag Saarbrücken 2002, S. 7-14

    Brugger, C. M., Kühn, H.: Sektion der menschlichen Leiche. Zur Entwicklung des Sektionswesens aus medizinischer und rechtlicher Sicht. Enke-Verlag, Stuttgart 1979.

    Diepgen, Paul: Der Kirchenlehrer Augustin und die Anatomie im Mittelalter. Centaurus I (1950/51) S. 206-211

    Eckart, W.: Geschichte der Medizin, S. 50-69, Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 1994

    Edelstein, L.: Die Geschichte der Sektion in der Antike. Quellen und Studien zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Medizin 3 (1932), S. 50-106.

    Geller, S. A.: Religious attitudes and the autopsy. Arch. Pathol. Lab. Med. 108 (1984), S. 494-496.

    Jetter, D.: Geschichte der Medizin. S. 172-175, Thieme Verlag Stuttgart New York 1992

    Leitner, H.: Heilkunde im frühen Christentum. In: Kunst des Heilens. Kat. Ausst. Kartause Gaming. Wien 1991

    Neuhuber, W. L.: Die Bedeutung der Beschäftigung mit dem toten Körper für die Entwicklung des Medizinstudenten zum Arzt. In: Stefenelli, N. (Hg.): Körper ohne Leben- Begegnung und Umgang mit Toten; Böhlau Wien 1998, S. 619-622

    Osiander F. B.: Lehrbuch der Hebammenkunst, sowohl zum Unterricht der angehenden Hebammen als zum Lesebuch für jede Mutter. 1796. Zit. nach Pauser P.: Sektion als Strafe? In: Stefenelli, N. (Hg.): Körper ohne Leben- Begegnung und Umgang mit Toten; Böhlau Wien 1998, S. 527-535

    Pauser P.: Sektion als Strafe? In: Stefenelli, N. (Hg.): Körper ohne Leben- Begegnung und Umgang mit Toten; Böhlau Wien 1998, S. 527-535

    Schneck P.: Geschichte der Medizin, S. 92-120, UNI-MED Verlag, Bremen 1997

    Stefenelli N.: Die Ablehnung von Lehrsektionen - Einwände gegen die Sektion in der Vergangenheit. In: Stefenelli, N. (Hg.): Körper ohne Leben- Begegnung und Umgang mit Toten; Böhlau Wien 1998, S. 519-521

    Sudhoff P.: Kurzes Handbuch der Geschichte der Medizin, Berlin Karger-Verlag 1922

    Tertullianus: De Anima 10.4; Editio Waszink 1933, S. 46-47. (Zit. nach Wolf-Heidegger G.: Zur Geschichte der Anatomischen Zergliederung des menschlichen Körpers. In: Wolf-Heidegger, G., Cetto, A. M.: Die anatomische Sektion in bildlicher Darstellung. Karger Basel 1967, S. 17)

    Toellner R.; Illustrierte Geschichte der Medizin, Band 2/6, S. 854-909, Andreas & Andreas Verlagsbuchhandlung Salzburg 1986


    >>> Zurück zum Textanfang